Warum ihr niemals ein Bild löschen solltet

 

Samstag Abend: Zurück Zuhause. Vorsichtig stellt ihr euren Fotorucksack ab. Der Rücken knarrt ein wenig. In Gedanken seid ihr immer noch beim gerade erlebten und fotografierten Sonnenuntergang. Wunderbar …

Ihr lasst euch auf den Stuhl vor dem Monitor sinken.

Der Tag war lang. Ihr seid schon vor Sonnenaufgang draußen gewesen und habt auch Bilder vom Tagesanbruch auf der Speicherkarte.

Gespannt öffnet ihr die Reißverschlüsse eurer Cameratasche und übertragt die Bilder auf den Rechner.

War der Sonnenaufgang noch etwas mau, erwartet ihr doch aber brillante Bilder vom Sonnenuntergang auf der Speicherkarte zu finden.

Und beim ersten Sichten, scheint sich eure Wahrnehmung zu bestätigen. Die Atmosphäre leuchtet geradezu übernatürlich während der Abenddämmerung, die Komposition stimmt und die Bilder sind knackig scharf.

Ihr kennt das. Dieses Gefühl, wenn der Tag so richtig gut war. Dann am Abend >die Kirsche auf der Sahne<, wenn sich beim Durchsehen der Bilder offenbart, was ihr großartiges eingefangen habt.

Die Bilder vom Sonnenaufgang wandern in den Papierkorb.

Für heute soll es genug sein und morgen werdet ihr die super Sonnenuntergangsbilder bearbeiten. Mit diesem Gedanken verabschiedet ihr euch in die wohlverdiente Nachtruhe.

An dieser Stelle, kurz bevor die Lichter ausgehen, stellt euch bitte das quitschende Geräusch eines schnell auf >Rückwärts abspielen< gestellten Filmprojektors vor…

…. Denn da ist etwas schief gelaufen.

Zeitsprung: Gleicher Ort, gleiche Brennweite, nur die Haare sind länger.

Ihr sitzt an eurem Rechner und schließt eine alte Festplatte an, um die Bilder darauf nochmal durchzugehen.

Ihr habt gerade viel Zeit, denn so ein super „bescheidenes“ Virus hat gerade das gesamte öffentliche Leben lahmgelegt.

Ihr stoßt auf einen Ordner mit Bildern von einem Sonnenuntergang und erinnert euch.

Was für ein Tag das war! Eines der Bilder hängt mittlerweile an der Wand neben eurem Monitor, gerahmt.

Aber da ist noch mehr. Eine ganze Reihe unbearbeiteter Bilder eines Sonnenaufgangs. „Warum habe ich die damals nicht weiter beachtet“, fragt ihr euch?

Schnell wird klar, dass die Lichtstimmung am Morgen damals nicht so dramatisch war und ihr daher den Bildern des Sonnenuntergangs eure volle Aufmerksamkeit habt zukommen lassen.

Aber jetzt, da ihr Zeit habt, fangt ihr an, die RAW Dateien des Morgens zu entwickeln.

Und siehe da. Ja. Das Licht ist tatsächlich nicht so farbintensiv wie an jenem Abend. Aber die Komposition gefällt euch tatsächlich doch etwas besser und das Licht hat nach der Entwicklung durchaus etwas magisches.

Ihr seid begeistert von eurem Fund. Könnt kaum glauben, warum ihr die Bilder damals einfach …

Zeitsprung: Zurück ins hier und jetzt. Die Haare sind wieder kürzer. Die Brennweite noch immer die Gleiche.

An dieser Stelle, könnt ihr den Satz nun hoffentlich mit „nicht weiter beachtet.“ beenden.

Bei der anderen Option: „gelöscht habt.“ wäre eurem langhaarigen Zukunfts-Ich nämlich ein super schönes Bild verloren gegangen. Und das wollt ihr ihm doch sicher nicht antun, oder?

Vielleicht ging es euch bereits schon einmal so:

Ihr entdeckt beim Durchforsten alter Bildbestände eine Aufnahme, die ihr nie entwickelt habt, die nie eure Aufmerksamkeit erweckt hat.

Heute aber, erscheint sie euch durchaus interessant.

Mir persönlich ging es einige Male so. Und jedes mal war ich dankbar, die Bilder damals aufgehoben zu haben.

Wir wachsen als Menschen, als FotografInnen. Unsere Wahrnehmung verändert sich und auch unsere Fähigkeiten bei der Bildbearbeitung werden besser.

Bilder, mit denen wir in der Vergangenheit nicht umzugehen wussten, deren Potential wir nicht erkannt haben oder die uns schlicht nicht angesprochen haben, vermögen dies zu einem späteren Zeitpunkt aber unter Umständen sehr wohl.

Und darum solltet ihr niemals ein Bild löschen.

Ihr wisst nie, wann es zu euch sprechen wird und wie glücklich ihr dann über eine alte Aufnahme seid, die ihr erst Jahre später als das erkannt habt, was sie wirklich ist…

Ein Schatz.